Geht es um digitale Bürgerrechte oder Datenschutz will die Schweiz stets nur autonom handeln. Sprich, es soll nur das Nötigste von der EU übernommen und einige Rosinen herausgepickt werden, damit die Schweizer Unternehmen keinen zu grossen bürokratischen Aufwand haben. Doch kaum geht es um Jugendschutz oder Glücksspiel im Internet, kann es plötzlich nicht genügend Verbote und Regeln geben – gefolgt natürlich von der Strafverfolgung, schliesslich liebäugelt der Bundesrat auch mit der vorgesehenen EU-Chatkontrolle oder lehnt diese zumindest nicht ab. Teils fallen diese noch strenger aus als in Europa, mit dramatischen Folgen für den Datenschutz und die Privatsphäre. Der «Swiss Finish», bei dem selbst die EU übertroffen wird, ist nämlich ein Gesetz zur Quasi-Ausweispflicht.
Das «Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele» und natürlich gibt es bei dieser Thematik durchaus Punkte, bei denen Handlungsbedarf besteht. So sind etwa die Altersfreigaben für den Filmkonsum in den Kinos von Kanton zu Kanton unterschiedlich geregelt. Dass hier eine Vereinheitlichung und Harmonisierung sinnvoll und eine Regulierung vonnöten ist, liegt nahe. Ausserdem scheinen gemäss einer schweizweit durchgeführten Studie der «EU Kids Online» Schweiz durchaus ein Grossteil der 15- und 16-Jährigen immer wieder mit unangemessenen Inhalten konfrontiert zu sein. Der Entwurf zielt deshalb auch auf bekannte Plattformen wie Netflix (ein sogenannter «Abrufdienst«) und Youtube («Plattform») ab, weshalb es sich beim neuen Jugendschutzgesetz eben auch um ein Internet-Gesetz handelt (auch wenn es interessanterweise vom Bundesamt für Sozialversicherung BSV ausgearbeitet worden ist).
Die EU hatte bereits 2018 schärfere Regeln mit dem Zweck des besseren Jugendschutzes beschlossen. So forderte sie dass unangemessene Inhalte schneller gemeldet werden und direkte Beschwerdewege errichtet werden sollen. Massgebend dafür ist die von der EU verabschiedete audiovisuelle Richtlinie der EU (Audiovisual Media Services Directive), diese wird von den EU-Mitgliedsstaaten unterschiedlich umgesetzt:
- In Frankreich (Gesetz Nr. 86-1067 vom 30. September 1986 über die Kommunikationsfreiheit (Loi Léotard) – Konsolidiert 18. August 2022 – Art. 60 II und III),
- in Deutschland (Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (JMStV) – konsolidiert 30. Juni 2022 – Art. 4, 5, 5a, 5b and 6)
- oder Österreich (Bundesrecht konsolidiert: Gesamte Rechtsvorschrift für Audiovisuelle Mediendienste-Gesetz – konsolidiert 1. Jänner 2021 – Art. § 39. 1. to 3)
…werden Systeme/Tools zur Altersverifikation gefordert und entsprechende Gesetze in den letzten beiden Jahren verabschiedet. Der Trend zur Identifikation und Altersprüfung ist also auf dem Vormarsch: So verlangt die ZDF Mediathek beispielsweise eine Altersverifikation anhand eines Ausweisdokuments, für Inhalte, die ab 16 Jahren freigegeben werden. In den USA besteht in Louisiana neu eine Ausweispflicht für die Anmeldung bei Plattformen wie Pornhub. Plattformen wie Netflix, Amazon Prime oder Hulu stellten bisher Eltern lediglich Tools zur Verfügung für die bessere Kontrolle. Spannenderweise verlangt Artikel 28 des neuen europäischen Digital Services Act im Widerspruch zur audiovisuellen Richtlinie dass die Plattformen nicht verpflichtet werden dürfen, personenbezogene Daten zu erheben um das Alter festzustellen.
Die Schweiz orientierte sich bei der Gesetzgebung ebenfalls an der audiovisuellen Richtlinie der EU. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied und zwar handelt es sich um die Artikel 8.2 und 20.2 des neuen Jugendschutzgesetzes. Die Schweizer Variante verlangt eine pauschale Altersverifikation VOR DER ERSTMALIGEN Nutzung von Netflix und Youtube und damit auch von allen Benutzern, die diese Dienste nutzen und sich anmelden sollen. Um allfällige Minderjährigkeit von jemandem festzustellen, müssen somit alle Nutzer ihre Identität ausweisen. Das Gesetz beschränkt sich also nicht auf spezifische Inhalte (wie Gewalt, Pornographie) wie bei den anderen EU-Ländern, sondern knüpft absurderweise die gesamte Kontoerrichtung per se an die Altersprüfung. Ob sich daraus auch eine Klarnamenpflicht für das Benutzerkonto ableitet, ist unklar. Aber de facto kriegen Netflix und Youtube theoretisch alle Daten eines Passes von jedem Schweizer Nutzer angezeigt.
Unmissverständlich ist der Bundesrat auch in der dazugehörigen Botschaft. Er schlägt sogar offen vor, dass die Alterskontrolle über die Kopie des Ausweises erfolgen soll. Was zuweilen etwas unbeholfen klingt: «Das geforderte System ist dabei nicht ausschliesslich technisch zu verstehen, sondern zum Beispiel auch über die Einforderung einer Kopie des Personalsweises der Nutzerin oder des Nutzers bei der Kontoeröffnung geschehen.» Wie genau ausser auf dem technischem Weg soll diese Ausweiskopie zu den Moderatoren-Teams der Plattform gelangen? Via Brief oder Brieftaube?
Eine Mehrheit des National- und Ständerats sowie des Bundesrats, die mit Schweizer Konsortien SwissSign erst vor Kurzem gegen die Vorherrschaft von bösen amerikanischen Datenkonzernen wie Google, Twitter, Facebook ankämpfen wollten, möchten FREIWILLIG DENSELBEN Konzernen staatlich verifizierte Personendaten von über 8.5 Millionen Personen – also der gesamten Schweizer Bevölkerung – schenken. Einfach so. Ohne Gegenleistung – und ohne Schutzmechanismen. Die Konsequenz: Amerikanische Plattformen und Abrufdienste erhalten damit staatlich garantierte Daten über mich und im Fall meines Personalausweises auch noch biometrische Daten. Ein Horrorszenario von dem die Security-Forscherin Lilith Wittmann stets warnte.
Ausserdem fordert Artikel 8.3 dass die erhobenen Daten von Minderjährigen «ausschliesslich für die Alterskontrolle verwendet werde», im Umkehrschluss bedeutet dies, dass mit den Passdaten erwachsener Nutzer alles Mögliche angestellt werden darf. Somit sind die hinaufgeladenen Passkopien samt ID-Nummer, Bürgerorte etc. ein möglicher Freipass für Profiling. Die Praxis der Ausweiskopie oder die Angabe der zwei letzten Ziffern der Ausweis-ID kam bei den Big Tech-Plattformen bisher zum Glück nur spärlich zum Einsatz. Etwa bei politischen Kampagnen bei Facebook. Hierbei muss sich ein Polit-Campaigner ausweisen, wenn er zielgruppenspezifische Werbekampagnen an Wähler ausspielen will. Ebenfalls möchten Services eine Ausweiskopie, wenn etwa ein Datenlöschbegehren gestellt wird. So wollte Clearview.AI perfiderweise ebenfalls eine Ausweiskopie, als man beantragte, seine Daten (Gesichtsbilder) löschen zu lassen.
Was allgemein erstaunt bei der parlamentarischen Debatte: Obwohl das politische Geschäft in mehreren Sessionen immer wieder verhandelt und Differenzen bereinigt wurde, sind Themen wie Ausweispflicht, staatliche Identität und biometrische Daten kaum diskutiert worden. Dasselbe gilt auch für Regulierungsfolgenabschätzung, die im Auftrag des BSV erarbeitet worden ist. Auch in diesem Dokument hat die Beratungsfirma lediglich die Aufwände bei der Altersprüfung für Plattformbetriebe evaluiert, jedoch kaum über die Datenschutz-Folgen von amtlichen Passdaten in den Händen von amerikanischer Konzerne gesprochen. Bei der Debatte im Nationalrat kamen die vernünftigsten Voten von der SVP. So die SVP-Nationalrätin Verena Herzog in der Parlamentsdebatte:
Die Schweiz orientiert sich beim vorliegenden Bundesgesetz an der europäischen Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste, geht bei der Umsetzung jedoch klar darüber hinaus. (…)
Die Verantwortung liegt jedoch bei den Eltern, ihren Kindern auch im Medienkonsum Leitplanken zu setzen, altersgerechte Inhalte zu wählen, die Kinder bei ihrem Medienkonsum zu begleiten und, ganz wesentlich, ihren Kindern einen verantwortungsbewussten Umgang mit Medien vorzuleben.
– SVP-Nationalrätin Verena Herzog in der Ratsdebatte von 2021
Ersteres ist faktisch korrekt: Die Schweiz überschiesst die EU, indem sie keine Koppelung an bestimmte Inhalte festschreibt und eine pauschale Altersprüfung vor erstmaliger Nutzung vorschreibt und da wir ja alle schon bei Youtube, Netflix, Prime sind, stellt sich die Frage, ob wir das retrospektiv nun alle hochladen und angeben müssen. Zu Zweiterem: Es wäre besser hier edukatorisch aufzuklären und mit Inhaltsdeskriptoren/Content Warnungen zu arbeiten. Ob die Plattformen Youtube und Netflix extra für die Schweiz eine solche strenge Prüfung 1:1 vornehmen werden, ist ausserdem zu bezweifeln. Artikel 8.2 und 20.2 sind daher unrealistisch. Wäre das neue eID-Gesetz – mit dem zurzeit verhandelten Konzept Self Sovereign Identity – schon bereits in Kraft und umgesetzt, würde je nachdem das Problem der Altersverifikation vermutlich besser gelöst werden (mittels der Freigabe einzelner Attribute wie «Alter» dank digitaler Signaturen). Die renommierte französische Datenschutzbehörde CNIL hat ebenfalls interessante Vorschläge gemacht, zum Beispiel könnte die Altersprüfung von einer Drittpartei vorgenommen werden, die aber im Gegenzug nicht erfährt, um welche Plattform es sich handelt, die von dem Internet-Nutzer aufgesucht wird. Umgekehrt erfährt die Plattform nur dass die Person über 18 Jahre alt ist und weiss weder Klarnamen noch Geburtsdatum. Auch scheint die EU in jene Richtung zu steuern, was wiederum den Widerspruch der audiovisuellen Richtlinie und dem DSA auflösen würde.
Am 19. Januar 2023 läuft die Frist für die Unterschriftensammlung gegen das «Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele» ab. Es wird knapp. Gemäss Pascal Fouquet von der Piratenpartei, die federführend beim Referendum ist, fehlen noch etliche Unterschriften. Erstaunlich ist wie wenig Echo das Referendum in der Schweizer Medienlandschaft bisher auslöste. Wer gerne Unterschriften für das Referendum sammeln möchte, findet diese bei
Ausweiszwang NEIN! – https://ausweiszwang-nein.ch/