Otyken spielen Ethno-Rock’n’Roll: Kehlkopfgesang begleitet von einem Synthesizer, das fröhliche Klappern von Maracas und das Klimpern von Tamburinen. Etwas, das wie der Schädel eines grossen Tieres aussieht, blitzt im Bild auf… Ja, es ist ohne Zweifel ein Schädel… Die Mitglieder von Otyken sind Ureinwohner Sibiriens und aktuell wird ihre Musik auf europäischen Partys gespielt. 2022 wurde die Band mit dem Song Genesis für einen Grammy nominiert.
Aber selbst für Russland ist Otyken ein seltenes Phänomen. Wenn man den Begriff Ethno-Band hört, stellt man sich Frauen in Trachten vor, die eifrig Folklorelieder singen, mit den Füssen stampfen und gelegentlich in einen Kreistanz übergehen. Man erwartet keine jungen Künstler in kurzärmeligen Anzügen, mit E-Gitarren und rhythmischen Bewegungen wie bei Techno-Raves. Aber so ist Otyken.
Die Band wurde 2019 im Norden Russlands in der Region Krasnojarsk von Andrej Medonos, dem Direktor des Museums für Völkerkunde, gegründet. Ihr Stil ist eine experimentelle Mischung aus verschiedenen Genres (von Rock und R&B bis Rap) mit ethnischen Motiven und Kehlkopfgesang. Die Lieder werden in Tschulymisch, Chakassisch und Russisch gesungen. Die Band besteht aus Vertretern der sibirischen Ureinwohner – Tschulymen, Keten und Selkupen. Sie kommen aus kleinen Dörfern mitten in der Taiga, einer Region fast ohne jegliche Zivilisation, wo es weder Apotheken noch Cafés oder gar Elektrizität gibt.
«Mein Dorf lebt vom Fischfang. Bist du als Junge geboren worden, wirst du Fischer. Du wirst es vielleicht nicht mögen, aber du wirst es tun», erklärt Leadsängerin Asjan. Sie stammt aus dem Dorf Tschulym, in dem 200 Menschen leben. Einer Version zufolge sind die Tschulymen die Vorfahren der turksprachigen Völker, einer anderen zufolge die Vorfahren der japanischen Ainu und der nordamerikanische Indianer.
«Mein Vater ist auch ein Fischer. Man fängt einen Fisch und muss ihn sofort essen. Wenn man am Ufer anlegt, muss man ihn bei lebendigem Leib ausnehmen, säubern und essen. Nur so wird es gemacht», erinnert sich Asjyan. Im Sommer setzt sie, wie auch die anderen Mitglieder von Otyken, ihre Konzerttätigkeit aus und fährt in ihre Heimat, in die Taiga, wo die Menschen noch immer nach ihrer traditionellen Lebensweise leben – fischen, Kühe melken, Bienen züchten. Auf ihrem YouTube-Kanal finden sich Vlogs aus den Dörfern, gemischt mit Musikvideos und Live-Shows, in denen gezeigt wird, wie man Honig von einem wilden Bienenstand sammelt, wie man Wildfleisch salzt und pökelt oder wie man Bilder auf Bienenwachs malt.
Auch ihre Clips werden vor der Kulisse ihrer nördlichen Heimatlandschaften aufgenommen. Der Name Otyken stammt aus dem Türkischen und bedeutet heiliger Ort, an dem die Krieger ihre Waffen niederlegen und verhandeln. Laut Andrej Medonos ist Otyken gerade wegen der ausländischen Touristen, die eine Vorliebe für sibirisches Ethno-Kolorit haben, so beliebt geworden. Es sind vor allem Touristen aus Nord- und Südamerika, aus Kanada und Kolumbien, die auf der Suche nach kulturellen Parallelen zwischen ihren Völkern und den Ureinwohnern Sibiriens sind. Zunächst klang Otyken authentischer, doch um ihre Reichweite zu erhöhen, begann die Band mit ihrem Sound zu experimentieren. Ihre Tracks gingen auf TikTok viral und wurden zu Trends.
Auch die Kostüme mussten angepasst werden: Es handelt sich nicht um Kleidung bestimmter Ethnien, sondern um eine interessante Mischung aus traditionellen Trachten und modernen Elementen. In den Clips sind sie oft in Tierfelle gekleidet, die Kostüme sind mit Federn und traditionellen Ornamenten verziert. Auch bei den Instrumenten wird versucht, sie «spektakulär» zu gestalten. «Unser ungewöhnlichstes und interessantestes Instrument ist die Morinchur (ein mongolisches Streichinstrument) mit einem Pferdeschädel. Wir haben auch Instrumente aus Knochen, wie Maracas und Hörner», erzählt Sweta, die die Maultrommel spielt.
Die PR-Aktivitäten der Band laufen bisher gut, sie werden vom westlichen Publikum wahrgenommen (viel mehr als in Russland). All das passt perfekt zum Grundgedanken des Projekts: Wie Otyken wiederholt erklärt haben, wollen sie dafür sorgen, dass ethnische Musik und kleine indigene Völker nicht der Vergangenheit angehören. «Wir haben Bands gegründet, um diese Folklore zu bewahren. Die Zeiten ändern sich und ich spüre, wie alles verblasst», sagt die Tschulymin Asjan. Im Jahr 2010 wurden bei der gesamtrussischen Volkszählung nur 355 Tschulymen gezählt. Davon sprachen lediglich 44 von ihnen ihre Muttersprache.
Wir haben Otyken in unser Radio-Programm aufgenommen, die Sendezeiten könnt ihr unserem Sendeplan entnehmen.