Ein Grundschullehrer namens Demon und ein Taxifahrer namens Starchild machen zusammen mit Spaceman und Catman seit 40 Jahren die Bühnen dieser Welt unsicher. Demon, Starchild, Spaceman und Catman sind nicht etwa Marvels neuste Superhelden, sondern Rockstars – und zwar die mit dem wohl bekanntesten Make-Up der Musikgeschichte. Feuerfontänen, Donnerschläge, Laser, Stroboskopblitze, Kunstblut und Konfetti: Wenn Kiss auftreten, wird alles aufgefahren, was der Entertainment-Fundus hergibt. So war es auch auf der Jubiläums-Show vom letzten Mittwoch, den 10. Juni und die maskierte Band führte ihre herrlich anachronistische Show im Zürcher Hallenstadion auf.
Das ich nochmals Kiss sehe, hätte ich mir bis vor kurzem nicht mal träumen lassen. Einmal im Leben sollte man Kiss gesehen haben, schon nur wegen der grossartigen Show und das war 2010 der Grund, dass ich damals einer Veranstaltung der Herren beiwohnte. Kiss, die kannte ich noch aus frühester Jugend, aber eigentlich waren das doch immer nur die Poster und Patches von den anderen, ich selbst hielt ich es mit Black Sabbath, Jimy Hendrix, AC/DC und Punkrock. Das waren damals noch Zeiten, in denen man sich entscheiden musste zwischen Bands, zwischen Musikrichtungen, zwischen Lebenseinstellungen und Image. Kiss, das waren die geschminkten Herren in Leggings, das waren die Poser und wenn ich ehrlich bin, war ich nie viel weiter in diese Band vorgedrungen als bis zu «Detroit Rock City», «I was made for loving you» und «Lick it up». Nun aber hat man mich wieder ins Hallenstadion gebracht und vorne stehen wirklich und wahrhaftig Kiss, eine Stimme kündigt die Best Ager in ihren Comic-Kostümierungen als die heissteste Band der Welt an. Schon vor dem Konzert konnte man zahllose Kiss-T-Shirts und diverse kissig angemalte Menschen zwischen fünf und achtzig ausmachen.
Ein Konzert von Kiss ist immer auch ein Defilée der Fans. Manche vor dem Hallenstadion hatten am Mittwoch die Buchstaben K, I, S und S auf die nackten Oberkörper gemalt. Andere, der jüngste davon war geschätzte fünf Jahre alt, trugen die gleichen Gesichter wie ihre Idole. Dutzende Spacemans und Catmans standen da rum und bei verliebten Paaren konnte es gar geschehen, dass Starchild Demon innig küsste. Es gab aber auch eine Zeit in der über vierzigjährigen Karriere von Kiss, in der die vier Charaktere dieser Band keine fantastischen Rock’n’Roll-Wesen mehr sein wollten. Es war die Zeit der Neunzigerjahre, als sie sich ihrer Schminkmasken entledigten, ein «MTV Unplugged»-Konzert spielten und mit dieser Demaskierung kurzzeitig alles verrieten, was ihre Band zur Weltmarke machte. Eine Weltmarke, die im Herbst 2014 in die Rock’n’Roll Hall of Fame aufgenommen wurde und zu der neben zahllosen Merchandise-Artikeln mittlerweile auch das Indoor-Profifootballteam LA Kiss gehört. Zwanzig Studioalben haben sie in ihrer Karriere veröffentlicht und mehr als 100 Millionen Platten verkauft. In den US&A sind sie die Band mit den meisten goldenen Schallplatten. Weltweit stehen sie auf Platz drei, hinter den Beatles und den Rolling Stones.
Als der schwarze Vorhang mit dem vierbuchstabigen Band-Logo fällt, bricht am Mittwochabend die Hölle los. Laserblitze greifen zuckend durch die Halle. Flammenwerfer züngeln hitzig im Takt. Böller detonieren und gleissende Feuerwerkskörper zischen über die Bühne. Man sieht den Bandmitgliedern hinter all der Schminke ihr Alter nicht an. Gene Simmons ist 66 Jahre alt, Paul Stanley 63, die anderen beiden sind in den Fünfzigern. In gespieltem jugendlichem Übermut staksen die routinierten Musiker über die Bühne. Man hört freilich, wie sie sich bei manchen Stücken stimmlich etwas schwer tun, vorallem Paul Stanley. Ihm merkt man die Spuren des Alters nicht nur stimmlich an, auf der Bühne hilft ein Teleprompter bei möglichen Texthängern. Aber egal. Der Stimmung tut das keinen Abbruch und die ist von Anfang an bombastisch! In diesem überbordenden Feuerzauber stehen die vier Musiker mit ihren schwarz-weiss geschminkten Horror-Clownsfratzen, in schwarzledernen, nietenbesetzten Phantasiekostümen samt gefährlich hoher Plateausohlen und hämmern den rund 7000 Besuchern ihren Song «Detroit Rock City» um die Ohren.
Nichts ist nachvollziehbarer, als sich in durchgeknallte Kostüme zu kleiden, wenn man sich schon auf eine Bühne vor ein paar tausend Menschen hinstellen will, die Spass begehren. Kiss regieren die Halle, es ist, als ob ihre Superkostüme ihnen Superkräfte verleihen und mit grosser Hochachtung sieht man ihnen bei ihrer Arbeit zu. In regelmässigen Abständen, wenn er seine Projektion auf den Riesenscreens weiss, fährt Gene Simmons die berühmte Zunge aus, welche nichts an Länge und Elastizität eingebüsst zu haben scheint, rollt mit den Augen, schleckt unter beeindruckendem Speichelfluss die Saiten seiner Gitarre ab, lässt sich an einer Stelle auch das klassische, nie verstandene und nie erklärte Kunstblut martialisch aus den gut geblähten Backen fliessen und während er auf diese Weise wieder das unkaputtbare Schwarzweissmonster aus den siebziger Jahren ist, so ist er doch immer auch ein augenzwinkernder Herr in den besten Jahren, der der Welt gibt, was die Welt ganz offensichtlich verlangt: Rockmusik, die Partymusik sein will und daher vor allem Nonsens sein muss. Herrlich anachronistische Unterhaltung zu durchaus auch sehr dumpfem Hardrock. Aber es ist nun mal so: Kiss, das bedeutet auch im Jahr 2015 Entertainment, das dem heiligen Ernst und der heiligen Echtheit des landläufigen Rockhelden mit Schminke begegnet.
Kiss ist Kult. Kiss ist Party. Kiss sorgen eineinhalb Stunden lang für ausgelassenes Staunen. «Deuce» spielen sie und «Psycho Circus». Der Sound ist bestens, die Lautstärke enorm, der pyrotechnische Einsatz von verschwenderischem Ausmass. Die imposante Bühne mit ihren gestochen scharfen LED-Bildwänden, Scheinwerferbatterien und hydraulischen Podesten nimmt die ganze Hallenbreite ein. Während des wunderbar selbstironischen Bandschlagers «Do You Love Me» wird auf der Videowand die Geschichte dieser Rock’n’Roll-Institution im Bildschnelldurchlauf erzählt: Die Anfänge in New York, die goldenen Jahre mitsamt den bahnbrechenden Pyroshows, den Groupies und der Privatjet mit dem Kiss-Schriftzug und nach den ungeschminkten Jahren glücklicherweise der Weg zurück zum tollen Mummenschanz der klassischen Bandvergangenheit. Kiss machen aus der Rockbühne einen Rummelplatz samt Geisterbahn und Kuriositätenkabinett. Gemeinsam inszenieren sie eine Rock’n’Roll-Revue, bei der an nichts gespart wurde. Nun ja, ein wenig vielleicht bei der Musik. Der Auftritt der US-Legenden bietet mächtig Futter für die Augen und der Pyrotechniker ist genau genommen das fünfte Bandmitglied.
Im Vergleich zu manchen Kollegen haben Kiss einen grossen Vorteil. Kiss-Lieder sind eigentlich Popsongs, sie stehen – zugespitzt gesagt – Abba näher als Led Zeppelin. Klar, es geht etwas härter zu in den knackigen Riff-Songs, aber die schlitzohrig kalkulierte Wirkung ist durchaus ähnlich. Und Kiss haben das, was sie tun, völlig im Griff, die Fans im Hallenstadion waren jedenfalls hochzufrieden. Für sein Bass-Solo vor «God of Thunder» hängt sich Simmons, der Mann mit der längsten Zunge des Rock’n’Rolls, ein Instrument in Form eines Schlächterbeils um. Er hämmert kurz und knackig in die Saiten. Er blickt in seinem Kabuki-Comic-Gesicht grimmig in die Ferne. Und spuckt im giftgrünen Scheinwerferlicht, alle haben darauf gewartet, mit Kunstblut um sich. Bisschen eklig, aber kommt immer wieder gut an – so wie auch die Arschwackler und Tanzschritte seines Komplizen Paul Stanley. Bei «I Love It Loud» skandiert alles und irgendwann schwebt Paul Stanley bei «Love Gun» tatsächlich über die Köpfe des Publikums Richtung Hallenmitte, wo er auf einem Podest einfach weiterspielt. Ein kleines bisschen «Rocky Horror Show» mit Monstern zum Knuddeln und einer bewegungsintensiven Musik, die in ihrer klassischen Einfachheit vertraut und eingängig daherkommt.
Kiss bieten sich und uns einen schönen, sinnlosen Abend und lassen es nicht nur blitzen und nebeln, sondern auch arhythmisch böllern auf der Bühne, sie fahren immer noch mitsamt ihren Instrumenten auf absurden Hebebühnen in die Höhe, um dort weiter zu musizieren, Funkenpracht schiesst ihnen aus den Gitarrenhälsen, Konfetti flattert in weissen Wirbeln auf die Menschen hernieder, Stösse heisser Luft erreichen einen im selben Moment, da man die Feuersalven auf der Bühne hochschiessen sieht, der Bierbecher zittert von den Bässen, Charmeur Paul Stanley an der Gitarre wirft im Sekundentakt Plektrons in die Menge. So gut ist die Laune, die Kiss verbreiten, dass einem nicht einmal die eigene vorgeprägte Unterbildung zum Problem wird. Immer kann man problemlos einstimmen in die Songs und irgendwas mit Party, Rock’n’Roll und Liebe rausgrölen. Ein prima Abend, an den man noch gerne lange denken wird. Klar, Zürich hat «die besten Fans» oder jedenfalls «die lautesten», und natürlich rollt die Showmaschine Kiss so gut geölt wie routiniert ab, aber äusserst unterhaltsam ist das trotzdem. Die Mutter aller Poser-Rockbands zählt seit 40 Jahren zu den beliebtesten Live-Bands der Welt und dass mit gutem Grund, denn Kiss setzen alles in Bewegung, um der treuesten Fangemeinden des Showgeschäfts «The Kiss Army», die ihnen über Höhen und Tiefen bis heute die Treue hält, dass zu bieten, was sie verrdienen: «You wanted the best, you got the best. The hottest band in the world!»
Setlist:
- Intro: Good Times Bad Times (Led Zeppelin Song)
- Detroit Rock City
- Deuce
- Psycho Circus
- Creatures of the Night
- I Love It Loud
- War Machine (Gene spits Fire)
- Do You Love Me
- Hell or Hallelujah
- Calling Dr. Love
- Lick It Up (with «Won’t Get Fooled Again»)
- Bass Solo (Gene spits Blood and flies)
- God of Thunder
- Cold Gin
- Love Gun (Paul flies out to the Crowd)
- Black Diamond
- Shout It Out Loud
- I Was Made for Lovin› You
- Rock and Roll All Nite
- God Gave Rock’n’Roll to You II
Zugabe:
[rwp-review id=»0″]