Man sagte, es gehe um Kinder. Es geht ja immer um Kinder. Wenn ein Gesetz mit diesem Satz beginnt, weiss man: Am Ende wird ein ganz anderes Publikum zahlen. Am 25. Juli 2025 trat in Grossbritannien der Kinder-Sicherheitsteil des Online Safety Act in Kraft und das britische Internet machte, was es immer macht, wenn Politik Technik regulieren will: Es zerbrach laut und vorhersehbar.

Das Parlament wollte Minderjährige vor Pornografie, Selbstverletzungsforen und algorithmischem Mobbing schützen. Heraus kam eine Pflicht zur «hochwirksamen Altersverifikation» für praktisch alles, was theoretisch von unter 18-Jährigen angeklickt werden könnte. Bei Zuwiderhandlung drohten Bussgelder von bis zu zehn Prozent des weltweiten Umsatzes. Ofcom bekam die Zähne eines Finanzaufsehers – und biss sofort zu.

Binnen Stunden verlangte Reddit Gesichtsscans oder amtliche Ausweise für NSFW-Bereiche. Spotify sperrte explizite Texte und Videos hinter biometrische Checks. Pornhub schloss Grossbritannien ganz aus, sofern kein Ausweis hochgeladen wurde. Tausende Spotify-Konten wurden in den folgenden Tagen gelöscht. Sicherheit? Nein. Ein nationaler Content-Zaun war geboren.

Der erste Riss zeigte sich im Morgengrauen. Proton VPN verzeichnete Minuten nach Mitternacht einen Anstieg britischer Anmeldungen um 1400 Prozent. Google-Suchen nach «VPN UK» explodierten. Drei Wochen später erklärte die Kinderbeauftragte Dame Rachel de Souza bei BBC Newsnight, VPNs seien «ein absolutes Schlupfloch«. Ofcom legte nach und warnte Plattformen, jede Ermutigung zur Umgehung gelte als Pflichtverletzung. Die Botschaft war eindeutig: Ausweichen ist jetzt illegal. Das Gesetz, das Pornos sperrte, bereitete den Weg für deine digitale Identität.

Was man übersehen hatte: Teenager sind nicht dumm. Wer das Netflix-Passwort der Eltern knackt, leiht sich auch deren VPN. Der Rest ging gleich zu Tor. Die .onion-Spiegel der regulierten Plattformen wuchsen. Sicherheitsfirmen meldeten eine Verdopplung bis Verdreifachung des britischen Traffics in unmoderierte Schattenräume. Datenschützer zeigten, dass dort mehr Missbrauchs-, Selbstverletzungs- und Extremismusmaterial kursierte als zuvor. Extremismusmaterial war nicht verschwunden. Es war nur in Räume ohne Aufsicht umgezogen.

Der zweite Riss war ernster. Am Tag des Inkrafttretens wurde die US-App Tea gehackt. 72’000 Bilder, darunter 13’000 Ausweise und Gesichtsselfies, landeten auf 4chan. Drei Tage später folgten 1,1 Millionen private Nachrichten inklusive Standortdaten. Monate später verlor Discord über einen Drittanbieter 70’000 Pässe und Führerscheine aus britischen Altersprüfungen. Die Leaks tauchten auf Dark-Web-Marktplätzen auf. Der Schaden war irreversibel.

Das war kein Pech. Es war die logische Folge eines Gesetzes, das Millionen Menschen zwang, hochsensible Dokumente bei privaten Firmen hochzuladen, die keinerlei Pflicht zur Löschung hatten. Regierungszahlen zeigten ohnehin, dass fast die Hälfte der britischen Unternehmen jährlich Cybervorfälle erleidet. Der Staat hatte neue Honigtöpfe geschaffen – und war überrascht, dass Wespen kamen. Ironie des Jahres: Ein Gesetz zum Schutz der Jugend lieferte deren Ausweise frei Haus an Hacker.

Der dritte Riss ist der wichtigste, weil er leise ist. Parallel lief das Digital-Identity-Programm der Regierung. Die Data-Use-Reform gab dem Rahmen Gesetzeskraft, eine neue Behörde entstand. Biometrie-Anbieter wie Yoti meldeten sprunghafte Zuwächse. Jede «ephemere» Altersprüfung speist ein wiederverwendbares Credential, verknüpfbar mit Bank, Reise, Job. Die Kinderbeauftragte mag VPNs hassen, die Logik dahinter ist klar: Nur eine zentrale, staatlich abgesicherte Identität schliesst das Schlupfloch. Fünf Millionen tägliche Alterschecks wurden zum Feldtest einer Infrastruktur, die weit über Pornoseiten hinausreicht.

Tony Blair nannte digitale Identität einmal ein System, mit dem man «genau weiss, wer hier sein darf». Keir Starmer peilt nüchtern 95 Prozent Abdeckung über die GOV.UK-Wallet bis 2030 an. Der Online Safety Act wirkt wie der Soft-Launch eines nationalen Ausweises durch die Hintertür. Leaks, VPN-Wellen, Dark-Web-Flucht gelten als Kinderkrankheiten. Gleichzeitig wächst der Rahmen: Finanzdienste, Mieten, irgendwann der Zugriff auf das NHS-Profil. Der Zaun sperrt nicht nur Inhalte. Er portioniert Bürgerschaft.

Die Briten, sonst allergisch gegen Ausweise, zucken mit den Schultern. Die Jugend stimmt mit dem Browser ab: Musik über Tor, Chats in dunklen Ecken, Tipps gegen Gesichtserkennung. Der Kinderschutz hat sie dorthin getrieben, wo Moderation ein Gerücht ist und Raubtiere sich bedanken. Die Pointe ist brutal sauber.

Geschichte kündigt Wendepunkte selten an. Der Online Safety Act kam mit warmen Worten über Sorgfaltspflichten. Er könnte als Moment in Erinnerung bleiben, in dem Grossbritannien schlafwandelnd ein kontrolliertes Netz baute. Stein für digitalen Stein. Die Schlüssel liegen in Whitehall. Die Leaks waren Warnschüsse, VPN-Verbote das Werkzeug, die Wallet das Ziel. Was als Kreuzzug gegen Pixel begann, endet als System, das jeden Bürger von der Wiege bis zur Bahre begleitet. Wenn dein Ausweis, deine Miete und dein Arzttermin in einer Staats-App wohnen – nennst du das immer noch Kinderschutz?

Vom Jugendschutzgesetz zur digitalen Vormundschaft
(via The Rational Forum)


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