Stell dir vor, du tritts frisch gebügelt der NATO bei – und als Willkommensgeschenk regnet es in den Planspielen 235 Atombomben auf dein Land. Nicht symbolisch, nicht metaphorisch, sondern als «Szenario». Deutschland, der ewige Puffer: Drinnen gehaltene Amerikaner, draussen gehaltene Sowjets, unten gehaltene Deutsche. Klingt wie Geschichte? Willkommen im Remake.
Seit über hundert Jahren übt der Westen Geostrategie nach Drehbuch: Erst «Heartland», dann «Rimland», heute «Grand Chessboard». Der Plot bleibt: Eurasien kontrollieren, Russland kleinhalten, Keile treiben – gern zwischen Berlin und Moskau. Menschen? Statisten. Berge, Flüsse, Rohstoffe – alles kartiert. Empathie? Nicht zuständig. Wer die Welt von der Kartenwand aus regiert, erkennt Kontinente, aber keine Kinderzimmer.
2022 dann das Foto fürs Geschichtsbuch: Xi und Putin lächeln in die Kamera und unterschreiben «Kooperation». Der Westen nennt es Bedrohung, die BRICS nennen es Weltordnung 2.0. Europa? Probiert derweil das Kunststück, gleichzeitig Russland zu besiegen, China zu entkoppeln und die eigene Industrie zu retten – mit Strompreisen aus der Hochofen-Hölle. Strategie? Ja: Die des dauerhaft erhitzten Selbst.
Russland will Sicherheit an langen Grenzen; die USA wollen «Pivot to Asia» und möglichst wenig Trümmer im eigenen Vorgarten. Die Europäer? Fordern «Sieg gegen die grösste Atommacht des Planeten» und halten das für rational. Was soll schon schiefgehen, wenn die Abschreckung wieder knistert wie ein offenes Kabel im Benzintank.
Währenddessen wechselt die NATO von «Massive Retaliation» zu «Flexible Response» – auf dem Papier. In den Simulationskellern bleibt die Dramaturgie gleich: Europa brennt, Amerika telefoniert. Frankreich hatte den Braten früh gerochen und stieg einst aus den Kommandostrukturen aus. Deutschland blieb – und übt bis heute, im Zweifel Dresden zu treffen. Souveränität, die auf dem Papier unterschreibt, was im Ernstfall niemand lesen möchte.
Propaganda? Schon immer dabei. Früher hiess sie Rhetorik, heute «kognitive Kriegsführung». Softpower ist das freundliche Gesicht der Hardpower: Dieselben Ziele, bessere Story. «Flood the Zone» – flutet den öffentlichen Raum mit der einen, sauberen Wahrheit, drossele skeptische Reichweiten und nenne es Resilienz. Ergebnis: Gleichklang ohne Dirigentenstab. Wer noch fragt, bekommt «Faktencheck», wer weiterfragt, «Desinformation».
Dazu KI, der neue Universalverstärker. Hardpower: Drohnen, die schneller entscheiden als Parlamente. Softpower: Profile, Nudges, massgeschneiderte Narrative direkt ins limbische System. Daten ersetzten Öl als wichtigster Rohstoff – und pumpen nun Propaganda präziser als jede Pipeline. Demokratie wird zur UX-Frage: Welche Wahrheit klickt besser?
Und dann die Moral, diese ewige Bühnennebelmaschine. Freiheitsrhetorik für Fernsehstudios, «Werte» als Poliermittel für Panzerblech. Der Feind – traditionell russisch, gern imperial – bleibt dramaturgisch verlässlich. Dass ausgerechnet jene, die «Faschist» als Allzwecketikett verteilen, «Kriegstreiber» als unstatthaft empfinden, ist die komische Note in einer Tragödie, die niemand lustig findet.
Die Medien liefern das Begleitprogramm: Headlines wie Funkenregen, Korrekturen im Kleingedruckten. Heute «Rakete X von Y», morgen «GPS vertan», übermorgen «weiter zum Wetter». Werbenetze bespielen Bahnhöfe wie Kriegsdrehkreuze der Meinung. Und nein – es ist keine Gleichschaltung. Es ist nur erstaunlich synchronisiertes «Framing», das zufällig immer dieselbe Melodie spielt.
Das Publikum? Gespalten, ermüdet, beschuldigt. Sachfragen werden identitär aufgeladen, bis Weihnachten am Impfstatus zerbricht. Wer differenziert, gilt als gefährlich; wer zweifelt, als Verräter. Die Spaltung ist kein Kollateralschaden – sie ist die Supply-Chain der Zustimmung.
Und Deutschland? Zwischen Zeitenwende, 100-Milliarden-Selbstvergewisserung und «wertebasierter Aussenpolitik» übt es den Spagat: Vorneweg moralisch, hintenran industriell. Die Rechnung zahlen Stromzähler, Steuerzahler und – mit etwas Pech – Geokoordinaten.
Der nüchterne Befund: Geostrategie ist älter als Mackinder, zynischer als Wahlkampf, folgenreicher als jede Talkshow. Sie funktioniert, weil sie die Landkarte ernst nimmt und den Menschen als Kulisse. Sie eskaliert, wenn die Kulisse brennt und man es «Notwendigkeit» nennt.
Der einzige Ausweg ist der, der im Drehbuch nie vorgesehen war: Nein sagen zur Logik des unvermeidlichen Krieges. Nein zur Simulation, in der Deutschland traditionell das Übungsziel ist. Ja zu Öffentlichkeit, die nicht geflutet, sondern gefragt wird. Ja zu Medien, die nicht harmonisieren, sondern überprüfen. Ja zu Politik, die Europas Sicherheit nicht in Planspiele outsourct.
Solange wir aber die Welt wie ein Brettspiel betrachten, werden wir behandelt wie Figuren. Und Figuren haben eine Eigenschaft, die im Lagezentrum besonders geschätzt wird: Sie schreien nicht, wenn man sie vom Brett wischt.

«Dravens Tales from the Crypt» bezaubert seit über 15 Jahren mit einer geschmacklosen Mischung aus Humor, seriösem Journalismus – aus aktuellem Anlass und unausgewogener Berichterstattung der Presse Politik – und Zombies, garniert mit jeder Menge Kunst, Entertainment und Punkrock. Draven hat aus seinem Hobby eine beliebte Marke gemacht, welche sich nicht einordnen lässt.







