Im Jahr 1980 führten Forscher der Dartmouth University eine Studie durch, die unser Verständnis von Wahrnehmung und Realität in seinen Grundfesten erschüttern sollte. Den Studienteilnehmern wurde gesagt, dass sie an einem psychologischen Experiment teilnehmen würden, das untersucht, wie Menschen auf Gesichtsentstellungen reagieren. Jedem Teilnehmer wurde mit Theaterschminke eine täuschend echte Narbe auf die Wange geschminkt. Die Teilnehmer betrachteten sich im Spiegel und wurden an den Zweck erinnert: Auf die Strasse gehen, mit Fremden interagieren und anschliessend berichten, wie sie von den auf der Strasse angetroffenen Menschen behandelt worden waren.
Dann kam der Clou der Versuchsanordnung: Kurz bevor die Teilnehmer hinausgeschickt wurden, sagten die Maskenbildner, sie müssten noch eine letzte Korrektur vornehmen. In Tat und Wahrheit entfernten sie jedoch die aufgetragene Narbe vollständig. Die Teilnehmer waren allerdings weiterhin davon überzeugt, sie seien entstellt und gingen mit dieser Überzeugung hinaus. Als sie zurückkamen, berichteten sie vorhersehbare Dinge: Die Menschen, die sie angetroffen hätten, seien abweisend und unhöflich gewesen. Sie hätten sich ihnen gegenüber merkwürdig verhalten. Einige berichteten, es wäre häufiger weggesehen worden. Manche fühlten sich bemitleidet. Doch es gab ja gar keine «entstellende Narbe». Da war nur die Überzeugung der Teilnehmer.
Sie waren überzeugt, entstellt auszusehen und ihr Gehirn fand dann exakt das vor, was es erwartet hatte. Das ist keine kognitive Strategie. Sondern ein neurobiologisches Muster, das die Wahrnehmung selbst formt. Eine Art Halluzination. Ich denke dabei sofort an die vielen Diskussionen um Diskriminierung. Wie viel davon passiert objektiv, wie viel nur subjektiv, weil Medien (und Politik) zur Zeit Überempfindlichkeiten nähren und legitimieren? Nichts bringt dem Ego mehr als eine Opferrolle, aus der heraus jemand (mehr oder weniger subtil) Täter sein und andere anklagen darf. Die zugrundeliegende Frage ist jedoch weitreichender:
Was ist eigentlich Realität?
Die Studie offenbart: Das Gehirn zeigt uns nicht die Realität. ES ZEIGT UNS DAS, WAS WIR ERWARTEN. Es nimmt Erinnerungen, Traumata, Erwartungen, Emotionen, Gefühle, Situationen, Bewertungen, Überzeugungen, Projektionen und malt daraus ein Gesamtbild. Eine Art Halluzination. Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist. Wir sehen, was unser Gehirn sich antrainiert hat. Dieses Bild fühlt sich real an, weil es verkörpert ist: Wir spüren es im Bauch, am Kloss im Hals oder an der Spannung in den Schultern. Alles was wir «dort draussen» wahrnehmen, wird von dem geformt, was längst «hier drinnen“ ist. Deshalb können zwei Menschen durch dieselbe Strasse gehen und völlig verschiedene Dinge und diese dann auch noch auf unterschiedliche Weise wahrnehmen.
Das Problem ist nicht Subjektivität. Das Problem ist, dass die meisten Menschen davon überzeugt sind, sie seien objektiv. Wer sich fragt: «Warum können sich Menschen nicht mehr auf einfache Fakten einigen?» Hier ist die Antwort: Weil die meisten Menschen gar keine Fakten sehen (können). Sie sehen (von ihrem eigenen Gehirn selbst zusammengestellte) Vorhersagen. Wir leben auf einem Planeten voller menschlicher Nervensysteme, die ihre Ängste und Ideale auf die Welt projizieren und jedes einzelne dieser Nervensysteme ist überzeugt, alles ganz klar zu sehen, jedes ist emotional sicher, dass seine Version der Ereignisse «die Realität» sei.
Bildung macht uns dagegen nicht immun. Im Gegenteil. Akademische Bildung oder kristalline Intelligenz machen die Täuschung einfach nur eloquenter, selbstsicherer. Doch es ist nur Projektion. Die Teilnehmer der Studie haben nicht gelogen. Sie haben ihre Erfahrung nicht erfunden. Ihr Schmerz war real. Und das ist das Erschreckende: Wir können wegen etwas leiden, das es gar nicht gibt? Es geht nicht darum, diesen Schmerz abzutun. Es geht vielmehr darum, Verantwortung für unsere Wahrnehmung zu übernehmen. Es geht auch nicht darum, sich doch bitte einfach besser zu fühlen oder positiv zu denken. Sondern es geht darum, zu lernen, die Halluzination zu unterbrechen.
Welche Narbe siehst du immer noch, die längst nicht mehr da ist? Und was würde sich in deinem Leben verändern, wenn du aufhören würdest, an sie zu glauben?
Studie: Kleck, R. E. & Strenta, A. (1980). Perceptions of the Impact of Negatively Valued Physical Characteristics on Social Interaction. Journal of Personality and Social Psychology, 39(5), 861–873.


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