Ich erzähl euch jetzt mal eine alltägliche Geschichte aus der Jugendpsychiatrie, geschildert von einer Pflegefachkraft:
Ich habe vorgestern als Pflegerin im Spätdienst auf der Jugendakutstation ausgeholfen. Vollkommen stationsfremd (aber erfahren!) stand ich da, mit «einer» weiteren Kollegin zur Versorgung der zehn Patient*innen. Die Kids sind so zwischen 14-18, alle akut krank. Einer kataton (Psychose?) im Bett liegend, eine weitere mit heftigem Drogenentzug, drei Mädels akut suizidal. Der Rest eher nur «latent». Alle mit ernsten Suizidversuch zuhause, mehrere haben es auch schon auf der Station versucht (und sind teilweise nur knapp gescheitert). Die Station hat nur Platz für 8 Pats, ist also mit 120% überbelegt. Der Krankenstand beim Personal ist hoch, es gab einige kurzfristige Kündigungen – die u.a. ich jetzt kompensieren soll. Ich habe diese Station noch nie zuvor betreten.
Und ich bin geschockt, als ich erfahre, dass wir nur zu zweit sind. Erste Amtshandlung: Übergabe. Ich kriege zu jedem Pat drei, vier Sätze gesagt. Kolleginnen aus der Pflege protestieren angesichts der Überbelegung und Unterbesetzung; der Arzt sagt, er könne daran nichts ändern. Also auf in den Kampf. Die erste Selbstverletzung, die Pat verbarrikadiert sich in der Schleuse, weint. Deeskalationsversuche scheitern, wir müssen sie da zu viert heraustragen. Sie wehrt sich und weint. Tumult auf der Station – gerade auf Jugendstationen schlecht, Stimmung kippt. Das bedeutet: Zwei weitere Pats haben Stimmungseinbrüche, meine Kollegin ist fast den ganzen Nachmittag in Krisengesprächen. Sie kennt die Pats, deshalb muss ich den Rest «managen» – ohne jegliche Ahnung mit zehn Jugendlichen, die das auch ganz genau wissen und ausnutzen…
Ich sehe die Kollegin bis zum Schichtende nur sekundenweise. Ich weiss nicht, ob sie zwischendurch überhaupt mal zum Trinken gekommen ist. Alle zwei Minuten haben die Pats Anliegen (Kann ich eine rauchen gehen? Spielen Sie mit uns Werwolf? Ich halte das nicht mehr aus, ich brauche Medikamente!) und ich habe «null» Ahnung von den Regeln und wie ich vorzugehen habe. Mehrfache Telefonate mit dem AVD, der glücklicherweise auch kommt (und leider auch nicht mehr Ahnung hat als ich). Zwischendrin Abendbrot machen und begleiten, pädagogisch intervenieren. Sobald die akut suizidalen Pats aus meinem Sichtfeld sind, werde ich nervös. Aber ich kann nicht überall sein. Eine lässt uns einen Zettel zukommen: Sie will sich heute umbringen, sie wisse auch schon, wie sie das anstellen soll. Später verbarrikadiert sie sich in ihrem Zimmer…
Meine Kollegin muss das ernst nehmen und da rein. Verrenkt sich das Knie während sie sich gegen die Tür stemmt. Hat starke Schmerzen, muss erst einmal kühlen. Sie weint. Der Pat geht es vor schlechtem Gewissen noch schlechter. Alles angespannt und ich fühle mich schrecklich… Der Nachtdienst kommt. Wir müssen Übergabe machen. Meine Kollegin und ich sind fertig mit der Welt. Alle zwei Minuten klopfen Pats, wir werden so oft unterbrochen, dass die Übergabe fast eine Stunde dauert. Es geht nicht anders. Um 22:45 gehe ich mit 1,5 Überstunden von der Station. Froh, dass niemand gestorben ist, während ich da war. In dem Wissen, dass das pures Glück war. Das, was da gestern passiert ist, war ein Drahtseilakt. Absolute Fahrlässigkeit. Ich kann bis halb zwei nicht schlafen und muss um acht wieder auf der Matte stehen. Im Bett fällt mir ein, dass ich mich nicht einmal um den katatonen Patienten gekümmert habe. Ich habe nur zwei mal schnell reingeschaut, ob er noch da ist. Morgen soll ich da wieder hin. Ich kann das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.
Nachtrag: Ich habe mit meinem Stationsleiter darüber gesprochen- Dass das fahrlässig ist, dass ich gerne aushelfe, aber dass ich das nicht noch einmal zu zweit mache. Dass mehr Personal da sein MUSS! Er zeigt sich verständnisvoll… und schickt statt mir morgen eine Kollegin… – bei gleicher Besetzung (die im Gegensatz zu mir scheinbar nicht protestiert. Oder noch nicht weiss, was sie erwartet)! So löst man Probleme in der Pflege! Ich werde kündigen. Achja, ich bin auf diesen Thread nur gekommen, weil gerade #psychiatrie trendet – wegen des «Unglücks» am #Breitscheidplatz… ohne das wäre die Erfahrung einfach in meinem Kopf geblieben, ohne Publikum… weil es Alltag in der Psychiatrie ist.
P.S.: Ich musste gestern übrigens wieder auf die Station, obwohl ich gesagt habe, dass ich das nicht mehr mache. Ich habe mich wirklich vehement gewehrt, nach viel Diskussion bin ich eingeknickt. Diesmal lief es nicht so dramatisch – Glück gehabt. Dennoch: So bricht man Pflegende.

(via Komplizin)

«Dravens Tales from the Crypt» bezaubert seit über 15 Jahren mit einer geschmacklosen Mischung aus Humor, seriösem Journalismus – aus aktuellem Anlass und unausgewogener Berichterstattung der Presse Politik – und Zombies, garniert mit jeder Menge Kunst, Entertainment und Punkrock. Draven hat aus seinem Hobby eine beliebte Marke gemacht, welche sich nicht einordnen lässt.







