Wir entschuldigen uns für die etwas reisserische Überschrift, aber im Gegensatz zu Korruption, Amtsanmassung und 35 Milliarden öffentlicher Gelder schafft ein totgerittenes Pony es einfach eher in die Schlagzeilen. In den letzten Wochen vor der EU-Wahl gab es in den europäischen Medien, die die SMS-Affäre um von der Leyen und Pfizer-CEO Bourla stets heruntergespielt oder vollends ignoriert hatten, eine auffällige Häufung von kritischen Berichten über von der Leyen, in denen der Vertrauensschaden durch die Pfizer-Affäre nicht nur ausdrücklich erwähnt, sondern als entscheidendes Hindernis für ihre zweite Amtszeit dargestellt wurde.
Nach der Wahl scheint all dies plötzlich wieder vergessen, denn dieselben Medien diskutieren ihre Nominierung als Kommissionspräsidentin nun mit einer Selbstverständlichkeit, als handele es sich dabei um nicht weniger als ein Naturgesetz.
Wählbar war Frau von der Leyen dabei bekanntlich nie, denn ihr undemokratischer Name stand noch nie auf einem EU-Wahlzettel – auch diesmal nicht. Dass sie für das öffentliche Amt, auf das sie nun erneut reflektiert, überhaupt im Gespräch ist, geht wesentlich nicht auf irgendeine Wahl, sondern auf reine Nominierungen zurück – durch die EVP (bereits erfolgt) und den Rat (bevorstehend).
Die Pläne der EVP, des Rates und von der Leyens könnten jedoch von unerwarteter Seite durchkreuzt werden. Der Belgier Frédéric Baldan, der im Zuge von «Pfizergate» bereits im April 2023 in Lüttich Strafanzeige gegen von der Leyen gestellt hatte – wegen «Korruption», «unrechtmässiger Bereicherung», «Vernichtung öffentlicher Dokumente» und «Anmassung von Titeln und Ämtern» – hat nun in Brüssel Klage gegen ihre Nominierung für eine zweite Amtszeit eingereicht.
Im «Pfizer Gate»-Verfahren geht es um den letzten von drei zwischen der EU-Kommission und dem Potenzmittelfabrikanten Pfizer verhandelten Impfstoffverträgen über 1,8 Mrd. Dosen und 35 Mrd. Euro – der grösste von der EU je abgeschlossene Vertrag. Die Europäische Staatsanwaltschaft EPPO hatte im Oktober 2022 die Einleitung von Ermittlungen bestätigt, seither allerdings weder die Kommission kontaktiert, noch – soweit bekannt – die in Frage stehenden SMS beschlagnahmt.
Höflicher Hinweis: Die EPPO ist Justizkommissar Reynders unterstellt, der Kommissionspräsidentin von der Leyen unterstellt ist.
Stattdessen konzentriert sie sich darauf, den Fall der belgischen Justiz zu entziehen, um ihn in seiner Gänze an sich zu reissen. Im Mai 2024 hat das Lütticher Gericht diesem Ansinnen der EPPO nicht stattgegeben, sondern ausdrücklich angeordnet, dass der für die Aufdeckung von Korruptionsfällen bekannte belgische Untersuchungsrichter Frédéric Frenay seine Untersuchung weiterführen solle. Der nächste Verhandlungstermin ist für Dezember anberaumt.
«Die Nominierung von Frau von der Leyen durch die EVP für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission ist ein Machtmissbrauch», heisst es nun in der Brüsseler Klageschrift. «Sie erfüllt nicht die Bedingungen, die in den Europäischen Verträgen, dem Verhaltenskodex für die Mitglieder der Europäischen Kommission und sogar im Verhaltenskodex ihrer eigenen Partei für dieses Amt festgelegt sind.»
Die von Baldan vor zwei Wochen an Ratspräsident Charles Michel, die Kommissarin für Werte und Transparenz Věra Jourová und den EVP-Vorsitzenden Manfred Weber gerichtete förmliche Aufforderung zur Rücknahme der Nominierung von der Leyens war fruchtlos geblieben.
Am letzten Freitag musste die EVP nun zu einer im Eilverfahren anberaumten öffentlichen Anhörung vor Gericht erscheinen, um dem Antrag Baldans entgegenzutreten, der verlangt, «die EVP anzuweisen, die Kandidatur von Frau Ursula von der Leyen zurückzuziehen, unter Androhung einer Geldstrafe von 50’000 Euro für jeden Tag der Verspätung ab dem Datum der Bekanntgabe des Beschlusses.»
Baldan argumentiert, dass von der Leyen während ihrer Präsidentschaft gegen die Charta der Grundrechte, mehrere EU-Verträge und den Verhaltenskodex für Kommissare verstossen habe, was ihre neuerliche Nominierung unmöglich mache.
Dem verpflichtenden «Verhaltenskodex für die Mitglieder der Europäischen Kommission», der seinerseits in den EU-Verträgen verankert ist, wird Kommissionsmitgliedern «in ihrem Verhalten und bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben» die Wahrung «völliger Unabhängigkeit, Integrität und Würde sowie Loyalität und Diskretion» abverlangt. «Sie genügen den höchsten Ansprüchen im Hinblick auf ethisches Verhalten», heisst es, und verhalten und äussern sich nicht «- in welcher Form auch immer – auf eine Weise, die ihrer Unabhängigkeit, ihrer Integrität und der Würde ihres Amtes in der öffentlichen Wahrnehmung abträglich ist.» Ferner haben sie jede Situation zu vermeiden, «die zu einem Interessenkonflikt führen kann oder die bei vernünftiger Betrachtung als eine solche Situation wahrgenommen werden kann.»
Im Verhaltenskodex der EVP heisst es in Art. 2 nicht nur, «Politiker müssen unabhängig und unbestechlich sein / Diejenigen, die Macht ausüben, müssen an einen höheren moralischen Standard gebunden sein / Politiker müssen die Rechtsstaatlichkeit respektieren», sondern in Art. 3 gar ausdrücklich, es dürfe «keine Verschwendung öffentlicher Mittel geben». Und schliesslich in Art. 4: «Die Mitglieder der EVP üben die ihnen übertragenen Aufgaben im öffentlichen Interesse und mit Integrität aus, ohne direkte oder indirekte Vorteile oder Belohnungen als Gegenleistung für ein bestimmtes Verhalten im Rahmen ihrer Arbeit anzufordern, anzunehmen oder zu erhalten, und vermeiden bewusst jede Situation, die auf Bestechung, Korruption oder unzulässige Einflussnahme hindeuten könnte.»
Weder der Rat noch die EVP können eine Person, die im Zuge ihrer ersten Amtszeit gegen diese verbindlichen Regelwerke verstossen hat, für das Amt der Kommissionspräsidentin vorschlagen, ohne damit ihrerseits gegen ihre eigenen Regelwerke zu verstossen.
Wären die Mechanismen der institutionellen und interinstitutionellen Selbstkontrolle in der EU auch nur halbwegs intakt, wäre es zu keiner der von Frédéric Baldan geführten Klagen je gekommen. Denn sowohl die Kommission (genauer: das Kolleg der übrigen 26 Kommissare) als auch Rat und Parlament hätten die Absetzung von der Leyens – jedenfalls bei ernsthafter Befolgung des geltenden Code of Conduct – längst selbst betreiben müssen. Mit juristischen Mitteln versucht Baldan, die Fehlfunktion der EU-Institutionen nun notdürftig zu reparieren.
Sein Vorgehen ist als Notwehr eines EU-Bürgers gegen das Versagen dieser Institutionen zu verstehen.

(via Martin Sonneborn)

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