Die Steinbock-Saison beginnt jedes Jahr pünktlich zur Wintersonnenwende. Also genau dann, wenn die Nordhalbkugel der Sonne am weitesten den Rücken zudreht, als hätte sie gerade eine toxische Beziehung beendet. Es ist die längste Nacht des Jahres, das grosse Dunkelheits-Finale. Die Welt steht nicht still, aber sie hält kurz den Atem an. Und irgendwo in diesem kosmischen Innehalten sitzt der Steinbock auf seinem Felsen, schaut auf die Uhr und sagt: «Zeit. Jetzt wird abgerechnet.»
Nicht umsonst nennt man den Steinbock den «Herrn der Zeit». Zeit entsteht durch Wiederkehr: Jahreszeiten, Umläufe, Zyklen. Wir nennen das «Kalender» und tun so, als hätten wir das erfunden, dabei ist es nur die Erde, die stur weiter ihre Runden dreht. Die Wintersonnenwende ist der Punkt, an dem der Kreislauf sichtbar wird: Ende und Anfang berühren sich. 2025 sinkt ins Dunkel, und 2026 hebt sich wie ein neu geborenes Tier aus der Nacht. In neuer Form. Mit demselben Herzschlag.
Je älter wir werden, desto wertvoller wird dieses Schauspiel. Früher waren Jahre unendlich. Eine weitere Runde um die Sonne, na und. Heute zählt jede. Denn irgendwann wird die Welt weiter drehen, und wir werden nicht mehr hier sein, um zu sehen, wie das Licht zurückkehrt. Das ist kein Drama, das ist die einfache Mathematik der Sterblichkeit. Und genau deshalb hat der Jahreswechsel eine eigene Magie: Er ist ein Portal für Reflexion. Für Absicht. Für Sinn. Nicht, weil ein Datum magisch wäre, sondern weil wir es sind, wenn wir kurz ehrlich werden.
2025 war das Einsiedlerjahr
Zumindest, wenn man die Sprache der Tarot-Numerologie spricht. Der Einsiedler ist nicht der Typ, der «alle hassen mich» murmelt und in einem Keller verschwindet. Er ist der Lehrer, der dich einlädt, dich nach innen zu wenden. Dort, wo es leiser wird. Dort, wo keine Likes wohnen. Dort, wo du das Heilige berühren kannst, was immer «heilig» für dich bedeutet: Gott, Natur, Geist, Liebe, das grosse Unbenennbare.
Stell dir vor, du hättest dieses Jahr am Feuer des Einsiedlers gesessen. Du, mit all deinen Geschichten. Er, mit seiner Laterne. Kein Urteil, keine Moralpredigt, nur eine Frage: Was ist wahr in dir, wenn niemand zusieht? Manche Antworten kommen wie Blitzschläge. Andere wie Wasser, das langsam einen Stein formt.
Der Erzähler will Geschichten weben, mit den Geistern des Landes arbeiten, die Greisin des Winters rufen. Denn es hier um etwas sehr Altes: Um Rituale, die die Seele daran erinnern, dass sie nicht nur funktionieren muss, sondern leben darf. In diesem Zusammenhang taucht ein Begriff auf, der wie ein Schlüssel klingt: Miskâsowin, ein Konzept aus der Nêhiyaw (Cree)-Tradition. Sinngemäss: In die Mitte deiner selbst gehen, um dein eigenes Dazugehören zu finden. Nicht draussen. Nicht in der Anerkennung anderer. Nicht in der Genehmigung durch irgendeine Autorität. Sondern im Zentrum, wo du dich selbst wieder triffst.
Und hier berührt sich Miskâsowin mit dem Einsiedler. Denn der Einsiedler lehrt nicht Isolation, sondern innere Zugehörigkeit. Ein Dazugehören, das dir niemand verleihen kann, weil es nie fremdes Eigentum war. Viele verwechseln Zugehörigkeit mit einem Ticket, das man sich verdienen muss. Mit einem Status. Mit einer Prüfung, die man besteht. Aber das ist nur die Erzählung des Imperiums.
Ja, Imperium. Dieses kalte System aus Macht, Normen und Belohnung. Es flüstert dir ständig zu: Du darfst dazugehören, wenn du dich anpasst. Wenn du dich richtig ausdrückst. Wenn du dich richtig verhältst. Wenn du die richtige Rolle spielst. Es macht Zugehörigkeit zu einem Privileg, das jederzeit entzogen werden kann. Praktisch, wenn man Menschen kontrollieren will. Grausam, wenn man Menschen heilen will.
Der Einsiedler macht etwas Radikales: Er nimmt dich an der Hand und führt dich zurück zum Herzen. Dorthin, wo du erinnerst: Ich gehöre dazu, weil ich lebe. Weil ich Teil dieses Netzes bin. Weil mein Atem nicht isoliert ist. Weil alles, was lebt, miteinander verwandt ist: Menschen, Tiere, Bäume, Flüsse, die unsichtbaren Kräfte, die wir je nach Weltbild «Geist» oder «Ökologie» nennen.
Für den Autor bedeutet Zugehörigkeit: Verbundenheit. Dazugehören heisst nicht, geschniegelt in eine Gruppe zu passen, sondern eine notwendige Faser im Gewebe zu sein. Nicht besser. Nicht höher. Nicht «auserwählt». Einfach wesentlich. Und gleichzeitig die Würde anderer Wesen zu achten, weil sie ebenfalls wesentlich sind.
Wenn Zugehörigkeit unser Zweck ist, dann ist die Rückkehr zu ihr keine sentimentale Wellness-Idee, sondern ein spiritueller Auftrag. Ein Ethos. Eine Art, zu leben.
Und jetzt kommt die Steinbock-Saison ins Spiel. Denn Steinbock ist nicht nur mystisch, er ist auch streng. Er ist der Hüter der Schwelle. Er fragt: Was trägst du noch, das dich beschwert? Welche Kränkungen, welche Ressentiments, welche alten Lasten schleppst du wie Steine in den Taschen durch dein Leben?
Manche Verletzungen brauchen Zeit. Aber manche Ketten halten wir selbst fest, weil sie uns vertraut sind. Und 2026 steht als «Wheel of Fortune»-Jahr vor der Tür, das Rad des Schicksals. Das Rad dreht sich. Es bringt Wandel. Nicht immer sanft. Aber ehrlich. Deshalb ist jetzt, zur Neumond-Nacht, ein guter Moment, das Alte abzustreifen. Neumond ist nicht «Magie», weil der Himmel dunkler ist. Neumond ist Magie, weil Dunkelheit uns erlaubt, neu zu wählen.
Eine Neumond-Strategie, die wirklich taugt:
Setz dich hin. Nimm ein Blatt Papier. Schreib drei Listen:
- Was endet mit 2025? (Gewohnheiten, Beziehungen, Selbstbilder, Ängste)
- Was soll 2026 nähren? (Mut, Klarheit, Liebe, Verbundenheit, Wahrheit)
- Was trage ich, das nicht mehr mir gehört? (fremde Erwartungen, Schuld, alte Urteile)
Dann wähle eine Sache aus Liste 3. Nur eine. Und mach sie symbolisch frei: Zerreissen, verbrennen (sicher!), vergraben, ins Wasser geben. Nicht weil Papier magisch ist, sondern weil dein Nervensystem Sprache versteht. Symbole sind die Grammatik der Seele.
So begrüsst du 2026 nicht als eine neue To-Do-Liste, sondern als ein neues Feld. Mit leichteren Händen. Mit einem Herz, das wieder Platz hat. Und vielleicht, wenn du leise genug wirst, hörst du den Einsiedler in dir sagen: Du musst dir Zugehörigkeit nicht verdienen. Du musst dich nur erinnern…


«Dravens Tales from the Crypt» bezaubert seit über 15 Jahren mit einer geschmacklosen Mischung aus Humor, seriösem Journalismus – aus aktuellem Anlass und unausgewogener Berichterstattung der Presse Politik – und Zombies, garniert mit jeder Menge Kunst, Entertainment und Punkrock. Draven hat aus seinem Hobby eine beliebte Marke gemacht, welche sich nicht einordnen lässt.








