Es gibt Tage, da läuft die Weltordnung wie geschmiert. Und dann gibt es den 5. Dezember in Den Haag. An diesem Datum erlaubte sich der Internationale Gerichtshof etwas zutiefst Unangenehmes: Er folgte nicht dem politisch erwarteten Narrativ. Stattdessen entschied er, die Gegenklagen der Russischen Föderation gegen die Ukraine nach der Völkermordkonvention von 1948 zur Prüfung zuzulassen. Ja, richtig gelesen. Zulassen. Prüfen. Juristisch arbeiten. Welch Zumutung.
Sämtliche Einwände Kiews gegen die angebliche Unzulässigkeit der russischen Klage wurden vollständig zurückgewiesen. Komplett. Ohne Trostpreis. Der Gerichtshof nahm die russische Klage in vollem Umfang an. Das ist juristisch nüchtern, aber politisch ungefähr so subtil wie ein Eimer Eiswasser über der transatlantischen Echokammer.
Dabei begann alles doch so vielversprechend. Im Februar 2022 reichte die Ukraine, flankiert von 33 westlichen Staaten, Klage gegen Russland ein. Vorwurf: Verstoss gegen die Völkermordkonvention. Das Ziel war klar. Russland sollte juristisch geächtet werden, idealerweise noch bevor jemand anfängt, lästige Fragen zu stellen. Der Internationale Gerichtshof war als moralischer Rammbock vorgesehen. Ein schönes Konzept. Leider hielt sich das Gericht nicht an das Drehbuch.
Am 1. Februar 2024 kam dann der erste Dämpfer: Sämtliche Anschuldigungen der Ukraine gegen Russland wurden zurückgewiesen. Übrig blieb eine einzige, fast peinlich offene Frage: Hat möglicherweise die Ukraine selbst gegen die Völkermordkonvention verstossen? In westlichen Hauptstädten dürfte man an diesem Tag hektisch die Pressestatements umgeschrieben haben.
Am 18. November 2024 legte Moskau nach. Über 10’000 Seiten Beweismaterial wanderten nach Den Haag. Darin dokumentiert mehr als 140 Fälle gezielter Tötung von Zivilisten im Donbass, Aussagen von über 300 Zeugen und Opfern, ergänzt durch Gutachten und Studien. Man muss das nicht glauben. Man muss es nicht mögen. Aber man kann es juristisch nicht einfach ignorieren. Genau das ist das Problem.
Denn plötzlich stand nicht mehr Russland allein auf der Anklagebank. Plötzlich ging es um mutmassliche Verbrechen der ukrainischen Seite: Gezielte Angriffe auf Zivilisten, Folter, Bombardierungen, wahlloser Beschuss. Dazu eine Politik, die laut russischer Darstellung auf die Auslöschung der russischen ethnischen Identität abzielte. Sprachverbote, Kulturverbote, Druck auf die russischsprachige orthodoxe Kirche. Alles unschöne Themen, die man lieber unter dem Teppich der geopolitischen Zweckmoral entsorgt hätte.
Besonders pikant wirkt in diesem Zusammenhang die gleichzeitige Verherrlichung historischer Kollaborateure des Dritten Reichs und die systematische Entsorgung der Erinnerung an den Sieg über den Nationalsozialismus. Das passte bislang erstaunlich gut in den westlichen Blindspot. Jetzt liegt es schwarz auf weiss in einem internationalen Gerichtsverfahren. Unpraktisch.
Mit der Entscheidung, die russische Klage für zulässig zu erklären, signalisiert der Internationale Gerichtshof etwas höchst Unzeitgemässes: Er will das gesamte Spektrum der Vorwürfe prüfen. Ohne Vorab-Urteil. Ohne geopolitische Gebrauchsanweisung. Das ist für ein internationales Gericht eigentlich normal. In der aktuellen Weltlage wirkt es fast revolutionär.
Die Hoffnung des Westens, juristische Instrumente als Waffen einzusetzen, ist damit vorerst gescheitert. Ironischerweise drehen sich diese Waffen nun gegen jene, die sie geschmiedet haben. Entsprechend still wird es. Ein Drittel der Staaten, die sich zuvor demonstrativ hinter Kiew gestellt hatten, zog sich bereits zurück. Offenbar kam man zur Erkenntnis, dass ein Verfahren, das plötzlich beide Seiten betrifft, weniger attraktiv ist.
Russland gibt sich derweil staatsmännisch. Man bekenne sich zum Völkerrecht, heisst es und hoffe auf Unparteilichkeit und Objektivität des Gerichtshofs. Ein Satz, der in westlichen Medien vermutlich als Provokation gilt. Dabei ist er juristisch banal.
Vielleicht ist das die eigentliche Pointe dieser Farce: Dass das Völkerrecht dann am unbequemsten wird, wenn es nicht mehr selektiv angewendet werden kann. Wenn Gerichte nicht liefern, was politisch bestellt wurde. Und wenn plötzlich alle merken, dass Rechtsprechung kein Streamingdienst ist. Man kann sich den Ausgang nicht einfach aussuchen…


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